Merkwürdig, ich spüre ihn nicht mehr. Den Schmerz. Weder dumpf noch stechend. Ein unbekanntes Gefühl umgibt mich, keine quälende Welle der vertrauten Marter mehr. Ungewohnt. Der Schmerz, der mir so lange die Kehle zugeschnürt hat, mich unablässig würgte, mir die Luft zum Atmen raubte mit seinem rauhen Henkerseil, einfch weg.
Der Schmerz, der mein Leben bestimmte ist gegangen. Leise, genau wie er damals, langsam, ganz langsam gekommen war-sich eingenistet hatte und blieb, wurde stärker und wurde ein teil von mir, nahm mich ganz in Besitz. Ich wurde zum Schmerz meines Schmerzens. ich wurde der Ort, wo mein Schmerz wachsen, reifen und blühen konnte. Und jetzt: Wie die Ruhe nach dem Sturm, wie die Ebbe nach der Flut, wie die Stille nach der letzten Schlacht des Krieges. Unheimlich…heimlich kroch der Frieden ein. Ich suche ihn überall, den so vertrauten, mir so lange eigenen Schmerz und finde ihn nicht mehr.
Meine Brust ist nicht mehr eingezwängt in einen Panzer, der mir nicht passt, mir nie gepasst hat. Unnachgiebig, zuverlässig, seinem Zeck entsprechend, eine Riesenkralle aus kaltem Metall. Mich friert nicht mehr. das eng geschnürte Korsett der beschränkte Lebenskreises, enger und enger und enger die Bänder im Rücken zusammengezogen mit Gewalt, den Atem heraus gezwungen, gerade noch so viel Luft gelassen, dass ich nicht erstickte. Nicht mehr: Flacher Atem nimmt die Kraft. Flacher Atem nimmt den Mut. Flacher Atem hat sich fast ergeben. Flacher Atem kann nicht kämpfen. Flacher Atem wird nie siegen,
Mein Kopf ist nicht mehr fassungslos und leer. Gedanken können wieder denken, Wollen kann wieder zugelassen werden. Wünschen, noch ungewohnt, doch nicht mehr fern. Hoffen hat wieder Sinn – macht langsam stark. Stärke gibt Zuversicht. Zuversicht gibt Leben. Leben gibt Freude. Neues Leben macht wissend, macht weise, wenn man es lässt. Hilfe geben spendet Trost.
Meine Nerven liegen nicht mehr blank. Ihre Bahnen sind nicht mehr verstopft, gestaut, abgesperrt, wehrlos dahinsiechend. Sie finden wieder ihren angestammten Weg, von selbst, als hätte es nie einen Schmerz gegeben. Aus Finden wird Empfinden. Eine nicht mehr gekannte Wärme spüre ich, flutet meinen Körper von innen. Das ist Glück, wenigstens ein Stück davon. Das Dasein-Einssein mit sich selbst. Wieder Sein dürfen, mir die Erlaubnis zu geben, so sein zu dürfen, wie ich bin. Beinahe vergessen wie es ist, bekannt nur noch aus einer blassen Erinnerung, eine zur Schimäre gewordene Fiktion. Nicht mehr damit gerechnet, bereits abgeschrieben, sich abgefunden mit der Trauer ohne Grenzen, dem Schmerz, der alles überdeckt, dem Teufelskreis, der kein Entrinnen zuließ. Tränen fließen. Das Glück, wenn man es nicht fassen kann, ist ähnlich dem Schmerz, den man nicht verkraften kann. Schleusen, Ventile der Seele öffnen sich, strömen nach außen, wenn es innen zu eng ist.
Mein Herz schlägt wieder. Kraftvoll und regelmäßig. Ein Rhythmus. Es rast nicht mehr vor unbändiger Angst vor dem Phantom des Versagens, des unerbittlichen Schmerzes, der sich tief in ihm eingenistet hatte. Die Schläge versuchen nicht mehr sich gegenseitig zu überholen, wenn ich sie im Halse spüre. Der Sprengstoff ist verpufft. Keine Angst mehr vorm Zerspringen. Gut zu wissen, dass mein Herz nur noch vor Freude hüpft, hopst, tanzt, unbändig durchströmt von Liebe. Ein gebrochenes Herz wieder repariert, gekittet, geklebt, zusammengesetzt aus vielen einzelnen Scherben zerbrochen im Unglück eines Lebensweges. Nun, Stück für Stück, Scherbe für Scherbe ineinandergefügt, ein Puzzle aus unzähligen Teilen – liebevoll geordnet.
Meine Hand ist nicht mehr allein, greift nicht mehr ins Leere. Kalt und blau gefroren, tastend, aber nicht greifen könnend. Kraftvoll und zuversichtlich fühlt sie eine andere Hand, die wärmt und drückt, sanft und fest. Festhält und führt, nicht loslässt und nicht loslassen wird. Meine Hand sucht nicht mehr blind im Dunkeln, verirrt sich nicht mehr, tapst nicht mehr ins Leere.
Ich stehe mit beiden Füßen auf der Erde und die Beine haben tatsächlich gelernt voranzugehen. Meine Seele lernt laufen, wie das Kleinkind unsicher seine ersten wackligen Schrittchen lernt, stetig. Ich nehme die Unebenheiten des Untergrunds wahr und spüre. Spüre ganz deutlich mich und den festen Boden unter meinen Füßen. Kein Wanken, kein Balancieren, kein Kippen. Aufrecht, nicht gebeugt von alten Lasten, klar und hell, den Blick geradeaus gerichtet.
Geschah es plötzlich und unerwartet? Passierte es unausweichlich? Vielleicht. Vielleicht auch durch Zufall. War die Zeit reif? Warum passierte es überhaupt? „Schmerz, umständehalber abzugeben“; könnte es heißen. Es war genug. Längst genug. Glücksfall! Gibt es ein Schicksal? Wann wendet sich alles zum Guten und warum? Aufgewacht aus einem Horrorkabinett, entstiegen einer Geisterbahn des Lebens, entkommen dem Inferno, das nicht mehr zu löschen war. Es brannte überall. Der Krieg tobte an allen Fronten unbeherrscht, unkontrollierbar. Und nun wach. Frieden! Die Augen offen, den Albtraum ausgeträumt. Gelandet mitten im Leben. Dort, wo es warm ist, wo Schutz ist, wohin sich alles Sehnen, ohne Hoffen auf Erfüllung, seinen Hafen gewünscht hat. Vermutet, dass es so etwas gibt, gehofft, einmal zu finden, nicht mehr daran geglaubt. Ein Leben lässt wieder Sein zu. Ein Leben, das wieder erlaubt. Mich sein läßt, wie ich bin. Selber atmen. Selber empfinden. Selber lieben. Selber lassen. Selber leben, nicht gelebt werden. Den Preis gezahlt, mehr als genug. Schwerverletzt und dennoch glücklich überlebt.
Es war lange Zeit ein Leben, das ich nie so wollte. Das Schlachtfeld hinter mir ist verwüstet. Jede Sekunde den Lebenskampf gekämpft, zäh und verbissen. Sich eingesetzt für Menschen, Werte, Pflichten, Moralvorstellungen und vielen Dingen, die es nicht wert waren. Pflichterfüllung bis zur Selbstaufgabe! Ständig kontrollierte Selbstdisziplin, eine der effektivsten Waffen gegen mich. Aus Selbstdisziplin wurde Selbstverleugnung, wurde Selbstzerstörung, wurde Schmerz. Gefangen in einem Labyrinth, aus dem kein Ausweg mehr führte. Das vernmeintliche Licht am Ende des Tunnels verschwand wie die Fata Morgana, sobald ich darauf zuging und Hoffnung schöpfte. Keine Hoffnunf, keinen Frieden, kein milder Wind, der zärtlich durch das Haar streift. Nichts weiter als Trugschlüsse, Enttäuschungen.
Tausend Tode gestorben. Die Seele ermordet. Die Lebensfreude dahingerafft von der Pest der Erwartungen, den Lasten, dem Unvermögen. Auf meine Schultern geladen, aufgetürmt, himmelhoch, angespornt, gedrängt, gedroht, vorausgesetzt, aufgehlst, genötigt, seelisch, moralisch. Kein Entrinnen! Nein! Gott sei Dank NEIN!
Leise, ganz leise ist Dornröschen wieder erwacht, zwar übersät mit Wunden vom andauernden Dornenbett, trotzdem aufgewacht. Doch Wunden können heilen. Die Narben werden mit der Zeit verblassen. Die Erinnerung wird im Nebel der Zeit verhüllt. Das Trauma hat ein Ende gefunden, der Anschluß ist besetzt. Kein Schluß entpuppt sich nur als Trugschluß. Irgendwann, Lichtjahre vorbei, der Schmerz ist ausgemerzt, die Wunden geleckt, den Tribut gezollt. Ich schwöre mir selbst, NIE WIEDER! NIEMALS WERDE ICH MIR DEN SCHMERZ WIEDER ANTUN! Das gebrannte Kind – es brennt nicht mehr!
Was zuück bleibt? Kein Zorn. Keine Trauer. Keine haßerfüllten Gedanken der Rache, keine Vergeltung, keine Schuldzuweisung, nichts was zerstört, wo doch so vieles zerstört wurde. Ich will Vertrauen gewinnen, zu mir, zu ihm, zu den Menschen. Ich will Liebe spüren, zu mir selbst, zu ihm, zu den Menschen. Ich will verzeihen, mir selbst, den Menschen, auch da, wo man nicht verzeihen kann. Ich will abschließen, den schweren Rucksack der Vergangenheit hinter mir liegenlassen, nicht ohne Beachtung, was geschehen ist, aber neu beginnen ohne Wut.
Befreit sein. Has Heute leben un erleben. Den Tag nutzen, wie ein Geschenk. Das Geschenk annehmen und einen Feiertag begehen. Einzigartig die Stunde genießen, egal welche Uhrzeit, welches Wetter, welcher Monat, welches Jahr. Die Schönheit zulassen, den Augenblick erkennen, ihn wertschätzen. Denn es ist der Augenblick, der glücklich macht. Die Sekunde, die zählt, die kleinste Einheit schmiedet das größte Glück. Die Natur, das Licht, die Farben aufzunehmen, mich um meiner Existenz willen für sie zu freuen, ein Ziel, das sich lohnt. Die Dinge sehen, wie sie sind. Machen, nicht einfach geschehen lassen, wenn es geschieht. Mut haben, nein sagen zu können, sich nicht mehr selbst vergessen. Mit den Augen verlieren, nicht nur anderen geüge zu tun. Mit den Augen, wie funkelnde Sterne das Licht in die Welt tragen. Das helle, wärmende Licht der Sonne in sich aufnehmen, in sich zu fühlen, weiterzugeben, wie einen unsichtbaren Stab eines Staffelläufers von einem zum anderen. Mit Freude im Herzen, immer wieder aufs Neue, die positive Einstellung bewahren, wie einen Schatz, den es zu hüten gibt.
Wachgeküsst, wie Dornröschen. Ganz einfach wach geküsst.
Froh sein, grundsätzlich. Ganz und gar und überhaupt. Die Gedanken ordnen, ein Leben in ruhiger Bahn, im Hafen gelandet in stürmischer Zeit. Die Fantasie darf wieder blühen, malen in bunten Farben. Ein Gedanke reiht sich um einen Gedanken und füllt ihn mit Wahrheit und Klarheit und Hoffnung und Licht. Die Angst ist gewichen, der Schmerz blockiert nicht mehr. Die Liebe hat den Schmerz überwunden, ihn ausgemerzt, ihn überlistet, ihn nicht mehr wichtig genommen.